Enthält das Neue Testament ein neues Familienmodell?

Gedanken zu Lk 2,41-52

Da gibt es in unserer Vorstellung eine Idealfamilie. Religiöse Tradition und wohl auch eigene Wunschvorstellungen haben sie erschaffen: die heilige Familie Maria, Josef, Jesus.

Die kirchliche Verkündigung widmet ihr ein eigenes Fest.

Und am Ende des heutigen Evangeliums heißt es: „Dann kehrte er mit seinen Eltern nach Nazaret zurück und war ihnen gehorsam … er wuchs heran, und seine Weisheit nahm zu. Gott und die Menschen fanden immer mehr Gefallen an ihm.

Fast dreißig Jahre lebt er dann in dem kleinen Ort, arbeitete vermutlich mit in der Werkstatt von Josef. Am Sabbat besuchte man den Synagogen-Gottesdienst, machte die jährliche Wallfahrt nach Jerusalem mit. Die Leute kannten seine Familie:

„Ist das nicht der Zimmermann, der Sohn der Maria und der Bruder von Jakob, Joses, Judas und Simon. Leben nicht seine Schwestern  hier unter uns?“ sagen sie.

Wie weit weg ist diese Schilderung von der Realität unserer Tage.

Wie viele unvollständige Familien gibt es, alleinerziehende Väter und Mütter,  Wiederverheiratete  mit Kindern aus zwei oder drei Ehen, Hartz IV Bezieher, die ihren Kindern nicht das geben können, was Kinder brauchen: eine gute Bildung, soziale Kontakte in Vereinen und Gruppen;  Reisen, um die Welt kennen zu lernen.

Kann da dieses biblische Bild noch eine Folie sein, die wir als Zielvorstellung für ein gelungenes Familienleben vermitteln möchten.

Allerdings: die Wirklichkeit war selbst nach der theologisch geläuterten Darstellung des Lukas anders:

Der heranwachsende Jesus, mitten in der Pubertät, bleibt ohne Wissen seiner Eltern in der großen fremden Stadt Jerusalem. Wir können uns gut vorstellen, dass die Jugendlichen voller Staunen und Begeisterung die Großstadt erlebten, das Völkergewirr, die vielen unterschiedlichen Sprachen, die politischen Gerüchte, die Gerüche der Garküchen, den Tempel mit seinem Opferbetrieb zum Paschafest.

Das musste die 12/14-Jährigen faszinieren. Und offensichtlich hatten sie auch die Freiheit, sich in Jerusalem ohne ihre Familie zu bewegen.

Und was dann folgt, können Eltern sich gut vorstellen. Das Kind ist verschwunden, der Junge war doch noch am Vorabend da, vielleicht noch am Morgen bei der Abreise in der Karawanserei! – Was ist passiert? Wie alle Eltern machen sich Josef und Maria Sorgen, fragen bei Nachbarn und Verwandten herum. Niemand hat ihn gesehen. Da kehren sie um und suchen ihn in der Weltstadt Jerusalem. Wir können uns die Aufregung und die Sorge seiner Eltern vorstellen. Nach drei Tagen fanden sie ihn unter den Schriftgelehrten im Tempel.

Das ist die erste Erfahrung, die den Eltern fremd bleibt. Sie haben ihn wohl überall anderswo vermutet, aber nicht dort. Er ist ihr Kind, aber dennoch fremd.

Und dann die Reaktion auf den Vorwurf der Mutter: „Kind, warum hast du uns das angetan? Dein Vater und ich haben dich mit Sorgen gesucht.“

Und das war nicht nur ein leiser Vorwurf. Lukas schreibt: „Da gerieten sie außer sich.“ Dem Josef ist der Kragen geplatzt, und Maria hat ihren Sohn angeschrieen. Und seine Antwort? „Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich im Haus meines Vaters sein muss?“

Eine doppelte Abfuhr holen sich die Eltern: Bin ich nicht mit 12 Jahren erwachsen. Was sucht ihr mich? Ich kann auf mich selbst aufpassen. Und dann: das „Haus meines Vaters.“

Ich kann mir die Gesichter der Eltern vorstellen. Zornig reden sie auf Jeschua ein – und bei dieser Antwort müssen sie denken, er sei übergeschnappt. Die Ereignisse um das Paschafest haben ihn um den Verstand gebracht. Er entfernt sich innerlich von ihnen, sie verstehen ihn nicht. Er wird ihnen zum Rätsel.

Und dieses Rätsel bleibt. Die kleine Erzählung in den Evangelien, dass seine Verwandten mit Maria ihn kurze Zeit nach Beginn seines öffentlichen Predigens mit Gewalt nach Hause holen wollen, weil er verrückt geworden sei, macht deutlich, dass dieses fremd-sein eine durchgängige Erfahrung bei den Begegnungen mit Jesus ist.

Also nichts mit Ideal-Familie. Auch die heilige Familie war eine Problem-Familie. Auch wenn Lukas eilig berichtet, dass der 12-Jährige fortan „gehorsam war und zunahm an Wohlgefallen vor Gott und den Menschen.

Wenn das nicht nur eine Verbeugung des Theologen Lukas aus der Zeit nach der Auferstehung Jesu ist!

Ich kann mir vorstellen, dass es den Eltern oder Großeltern unter Ihnen ganz gut tun kann, ein ungeschminktes Bild von der „heiligen Familie“ zu sehen, weil sie selber sich dann ein Stück darin wieder finden.

Wir können in dieser „Kindheitsgeschichte“ unsere eigenen Sorgen um Kinder und Enkel entdecken.

Sie wollen ihnen das weitergeben, was Ihnen im Leben wichtig ist, was Sie als hilfreich und nützlich erfahren haben. Denn Ihnen liegt etwas an diesen Menschen, sie sind Ihnen nicht egal. Erziehung ist ja mit vielen Verzichten und Mühen verbunden. Und viele machen dann die Erfahrung, dass Kinder und Enkel auf Ihre Erfahrungen pfeifen, eigene oft verworrene Wege ausprobieren, lange Zeit sich von all dem distanzieren, was ihnen bisher Beheimatung bot.

Wir könnten von ganz verschlungenen, immer wieder abgebrochenen und neu gesuchten beruflichen Wegen sprechen, von der Entfremdung von Glauben und Kirche, von sehr schwierigen Partnerschaften – immer werden Eltern den gleichen Schmerz, den gleichen Ärger spüren wie Josef und Maria auch.

Und werden genauso „fremd gewordene“ Kinder erleben: Die Argumente, die Reaktionen verstehen sie nicht.

Schon die Erzählung des Lukas enthüllt jede Erziehung als „Gratwanderung“ und als offene Mitgift: was Kinder daraus machen, liegt nicht mehr in der Macht und Verantwortung der Eltern.

Dass Jesus selbst Maria und Josef fremd blieb, weist darauf hin, dass es vielleicht nicht ein verbindliches Modell gibt, wie Mensch-sein und Christ-sein heute gelebt werden können.

Allzu schnell machen auch wir unsere Lebens- und Glaubenspraxis zur allein selig machenden.

Es gilt, in den vielen Lebensformen junger Menschen, in den beruflichen und freizeitbezogenen Engagements zu entdecken, wo sie sich für andere einsetzen, Stellung beziehen gegen unmenschliche Strukturen, das Umweltbewusstsein schärfen.

Es gilt darauf zu setzen, dass eines Tages die Sinnfrage neu aufbricht, „Brot und Spiele“ nicht mehr ausreichen, um einen Menschen auszufüllen.

Es gilt, darauf zu setzen, dass Gott selbst im Menschen lebt und seine Kraft zu ganz unterschiedlichen Zeiten und zu ganz unterschiedlichen Gelegenheiten durchbricht. Wie bei dem 12-jährigen Jeschua aus Nazaret.

 Und denken wir noch mal an die Begebenheit, als seine Verwandten Jesus  zu Beginn seiner Predigertätigkeit zurückholen wollen, weil er verrückt geworden sei.

Da sagt man ihm: „Draußen stehen deine Mutter und deine Brüder und fragen nach dir.“

Er schockiert seine Mutter und die Verwandten:

„Wer ist meine Mutter  und wer sind meine Brüder? Und er blickte  auf die Menschen, die im Kreis um ihn herum saßen, und sagte: das hier  sind meine Mutter  und meine Brüder. Wer den Willen Gottes erfüllt, der ist für mich  Bruder und Schwester und Mutter.“

Da spricht aus ihm ein Selbstverständnis, das aufhorchen lässt. Denn offenbar weiß er genau, was der Wille Gottes ist.

Und  wir können ahnen, dass Jesus eine Gemeinschaft  will, die seiner Vision vom Reich Gottes folgt; die genauso wie er sich auf Anfeindungen, Verfolgungen,  auf zermürbende Erfahrungen, Kraftlosigkeit und Frustration einlässt, aber innerlich durch den Gottesgeist gestärkt den neuen Weg beginnt.

In der Apostelgeschichte lesen wir, dass seine Jünger in einer solchen Gemeinschaft leben; dass keiner etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum nannte und keiner von ihnen Not litt. Da ist schon diese neue Familie da, von der Jesus sprach.

Und in Ansätzen gibt es sie auch  heute in der Kirche:

Kleine Gemeinschaften in der Jugendarbeit: in einer Theatergruppe, in der KjG, bei den Messdienern, auf Ferien- freizeiten, beim Familienmorgen; im gemeinsamen Engagement für Flüchtlinge, für ein besseres Miteinander im Stadtbezirk.

Gemeinde von Christinnen und Christen, die offen sind für alle, die am selben Strang ziehen wollen.

Ein neues Familienbild entsteht da, das die heutige Realität einfängt.