Wahrheit und Wirklichkeit – Gedanken zum Christ König Fest

In dem Text der Liturgie heute, den ich gerade gelesen habe, fehlt der letzte Satz des Dialogs zwischen Jesus und Pilatus.

Jesus endet: „Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme.“

Sagt Pilatus zu ihm: „Was ist Wahrheit?“

Der Liturgie kommt es offenbar darauf an, uns eindringlich darauf hinzuweisen: Jesus selbst ist die unveränderliche und unvergängliche Wahrheit.

Da spricht aber der letzte Satz des Pilatus ein Problem an, das Menschen aller Zeiten umgetrieben hat und seit einigen Jahren auch in der Kirche heiß diskutiert wird:

Können allein Worte, können Dogmen, Erlasse, Gesetze Wahrheit für alle Zeiten allgemeingültig einfangen? Muss nicht Wahrheit die Wirklichkeit widerspiegeln; kann sie nur so für Menschen annehmbar werden?

Die Bemerkung des Pilatus macht eine Schwierigkeit offen und so diesen Römer trotz allem ein bisschen sympathisch.

In der Vergangenheit hatten wir doch oft das Gefühl, dass sich die Kirche gerne an die Stelle Jesu setzte: Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf ihre Stimme.

Wir kennen die Lieder:

„Fest soll mein Taufbund immer stehen, ich will die Kirche hören.“

„Auf Zion hoch gegründet steht Gottes heil‘ge Stadt, dass sie der Welt verkündet, was Gott gesprochen hat.“

Sicher hat die Kirche eine Lehrautorität, die sie durch den Papst und die Bischöfe ausübt, aber doch nicht losgelöst von dem allgemeinen Glaubensbewusstsein des ganzen Volkes Gottes.

Gerade in der Ökumene, wenn es um das Amtsverständnis geht; in der Frage, welche Rolle Frauen in der Kirche zukommt; bei der Diskussion über Sexualität scheinen die Auffassungen weit auseinander zu gehen.

Wann immer Kirche Wahrheit zu lehren behauptet, kann es nur die Wahrheit sein, die aus dem Hören auf die Stimme Jesu her-kommt.

Und da kann die Bemerkung des Pilatus ein Stück weit entlasten.

Es ist nicht einfach, diesen Jesus zu verstehen, seine Gedanken, seine Zeichen, seine Maßstäbe zu übernehmen. Sogar von seinen Freunden wird ja öfter berichtet, dass sie ihn nicht verstanden; wie oft musste er sie beiseite nehmen und ihnen etwas erklären.

Die Wahrheit herauszufinden, die Jesus mit seiner ganzen Person verkörpert, kann nur in einem immer neuen Such-Prozess gelingen, in dem die bevollmächtigten Amtsträger sich mit allen Gläubigen zusammentun im gemeinsamen Hören auf das Wort Gottes und die Tradition der Kirche.  Und dabei dürfen sie nicht die kulturellen und geschichtlichen Veränderungen außeracht lassen.

Wahrheit hat immer auch mit der Wirklichkeit zu tun; wenn sie das nicht tut, entsteht menschenverachtender Fundamentalismus.

Und was ist die Wahrheit dieser Szene vor Pilatus?

Jesus offenbart sich als wirklicher Herrscher, weil er frei und voller Selbstbewusstsein seinen Auftrag durchhält. Vor Pilatus steht ein geschundener, gefolterter, in die letzte Einsamkeit gestoßener Mensch; selbst seine Freunde sind geflohen. In diesem gebrochenen Körper aber steckt ein ungebrochener Geist. Jesus spürt: diesen Weg muss ich gehen,  und er sieht sich dabei in der Linie des leidenden Gottesknechtes, des gerechten Ijob, der Propheten des Alten Bundes.

Für ihn heißt ‚herrschen‘ dienen, sich bis zum letzten einsetzen für Gerechtigkeit, Vergebung, Teilen, Solidarität.

Die sind ihm lieber, die kleinmütig, furchtsam mit ihm gehen als die, die fromme Worte wie Tünche über ihr Handeln streichen. Sie haben gar nichts begriffen.

Auch Pilatus begreift nichts:

Dein eigenes Volk und die Hohenpriester haben dich mir ausgeliefert. Was hast du getan?“

 Und doch spürt Pilatus: hier steht einer vor ihm, der anders ist als die, über die er sonst zu Gericht sitzt.

Uns täte es gut, uns in diesem Evangelium in die Rolle des  Pilatus zu versetzen und uns selbst fragen: wer ist dieser Jesus für mich?

Seine Radikalität ist anders als die der Selbstgerechten, als die der unbarmherzigen Fundamentalisten.

Er lehnt jeden Machtanspruch über Menschen ab; lässt die gehen, die sein Wort nicht hören wollen; umwirbt sie mit seiner Zuwendung und Liebe; hilft ihnen, sich selbst anzunehmen; zeigt ihnen einen Weg  zum Leben in Fülle.

Zu denen, die seinen Weg begleiten, zählen aufbrausende, vorschnell urteilende Freunde; Schmeichler, die die besten Plätze in seinem Königreich anstreben; Frauen mit einem schlechten Ruf; Judas, der am Ende seinen Weg für verkehrt hält und sich mit seinen Gegnern zusammentut.

Nach seiner Auferstehung lässt er sich auf Zweifler ein wie Thomas; nimmt Paulus, der dem Mord an Stephanus zugestimmt hat, unter die Apostel auf, baut auf Frauen als Gemeindeleiterinnen in Philippi und anderswo.

Auf einmal wird deutlich, dieser Jesus hält die Realität der damaligen Gesellschaft aus, nimmt die Lebensgeschichte von Menschen ernst, setzt sich mit der Wirklichkeit auseinander, die ihm da begegnet, und sagt ihnen: Entscheidend ist, heraus zu finden, was der Wille Gottes ist.

Und um das herauszufinden, zeigt er ihnen quer durch sein Leben und durch die Geschichte seiner Kirche einen Weg:

In die Stille gehen, lauschen auf die leise Stimme, mit der Gott zu jedem Menschen spricht, darüber nachdenken, sich mit  anderen austauschen und dann die Erkenntnis in die Tat umsetzen.

Da die Wirklichkeit immer zeitgebunden ist, wird es notwendig sein, diese Anstrengung  der Suche nach der Wahrheit immer wieder neu auf sich zu nehmen.